Eine kurze Biographie

Erich Fried wurde am 6. Mai 1921 in Wien geboren. Früh begann er zu schreiben, bis der deutsche Einmarsch 1938 ihn "aus einem österreichischen Oberschüler in einen verfolgten Juden verwandelte." Der Vater wurde von der Gestapo ermordet, daraufhin floh Fried nach London, von wo aus er seiner Mutter und 70 anderen Personen zur Flucht verhalf.

Nach dem Krieg wurde Fried Mitarbeiter an zahlreichen neugegründeten Zeitschriften, später Kommentator deutschsprachiger Sendungen beim BBC. Diese Position gab er 1968 wegen der unveränderten Kalten-Kriegs-Position der BBC auf.

Er machte sich mit verschiedenen Gedichtbänden, seinem einzigen Roman ("Ein Soldat und ein Mädchen" 1960) und Übersetzungen (u.a. übersetzte er fast die kompletten Werke Shakespeares) einen Namen - geriet aber auch oft in Konflikt mit der öffentlichen Meinung, wenn er offen und kritisch Stellung zu politischen Themen nahm, was sich auch in vielen seiner Gedichte wiederspiegelt. Erst gegen Ende seines Lebens wurde ihm die verdiente Anerkennung in Form von Auszeichnungen wie dem Bremer Literaturpreis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Georg-Büchner-Preis zuteil.

Erich Fried starb nach langer und schwerer Krankheit am 22. November 1988 und wurde auf dem Kensal Green in London beerdigt.

Quelle: Erich Fried "Das Unmaß aller Dinge. Erzählungen." Berlin 1990

Gedichte:

Aufhebung
Bedingung
Bei dir sein wollen
Dich
Dich (dich sein lassen)
Erschwerung
Halten
Ich träume
Nachtgedicht
Nicht sich verstecken
Was es ist
Was?
Wenn ich dich küsse

Es kommen noch mehr!

Links:

erichfried.de

Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe


Was?

Was bist Du mir?
Was sind mir deine Finger
und was deine Lippen?
Was ist mir der Klang deiner Stimme?
Was ist mir dein Geruch
vor unserer Umarmung
und dein Duft
in unserer Umarmung
und nach ihr?

Was bist du mir?
Was bin ich Dir?
Was bin ich?


Halten

Halten
das heißt
Nicht weiter - nicht näher - nicht einen Schritt
oder heißt Schritthalten
ein Versprechen - mein Wort
oder Rückschau

Halten
dich
mich zurück - den Atem an - mich an dich
dich fest
aber nicht
dir etwas vorenthalten

Halten
dich in den Armen
in Gedanken - im Traum - im Wachen
Dich hochhalten
gegen das Dunkel
des Abends - der Zeit - der Angst

Halten
dein Haar mit zwei Fingern
deine Schultern - dein Knie - deinen Fuß
Sonst nichts mehr halten
keinen Trumpf - keine Reden
keinen Stecken und Stab und keine Münze im Mund


Bedingung

Wenn es Sinn hätte
zu leben
hätte es Sinn
zu leben

Wenn es Sinn hätte
noch zu hoffen
hätte es Sinn
noch zu hoffen

Wenn es Sinn hätte
sterben zu wollen
hätte es Sinn
sterben zu wollen

Fast alles hätte Sinn
wenn es Sinn hätte


Dich

Dich nicht näher denken
und dich nicht weiter denken
dich denken wo du bist
weil du dort wirklich bist
Dich nicht älter denken
und dich nicht jünger denken
nicht größer nicht kleiner
nicht hitziger und nicht kälter

Dich denken und mich nach dir sehnen
dich sehen wollen
und dich liebhaben
so wie du wirklich bist


Dich (dich sein lassen)

Dich
dich sein lassen
ganz dich

Sehen
daß du nur du bist
wenn du alles bist
was du bist
das Zarte
und das Wilde
das was sich losreißen
und das was sich anschmiegen will

Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln

Dich dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an mit wieviel
Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem �
nach allem
was du ist

Nach der Wärme
und nach der Kälte
nach der Güte
und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen
und deinem Unwillen
nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit
Stetigkeit

Dann
ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht
gar nicht so schwer.


Ich träume

Ich träume daß ich lebe
Ich träume daß ich dich kennengelernt habe
(ganz plötzlich ganz unerwartet als wäre das möglich)
Ich träume daß wir uns lieben
Ich träume daß wir uns noch immer lieben
Ich träume daß du einen anderen Mann kennenlernst
Ich träume daß du ihn liebst aber daß du ihm sagst
daß du auch mich weiter liebhaben willst

Ich träume daß er sagt er versteht das
und wir können uns weiterhin lieben
(als wäre das möglich)
Ich träume daß er sagt er erträgt das nicht gut
(nicht ganz plötzlich und nicht ganz unerwartet)
Ich träume daß du sagst du willst versuchen
unsere Liebe in bloße Freundschaft zu verwandeln
aber daß du die Freundschaft weiterhin haben willst
Ich träume er sagt er versteht das
(als wäre das möglich)

Ich träume daß ich mich damit abgefunden habe
Ich träume daß das Leben weitergeht und die Arbeit
Ich träume daß du mit ihm über alles sprichst
und er mit dir über alles so wie du das haben wolltest
Ich träume daß er unsere Freundschaft gut erträgt
und daß wir alle wenn wir nicht gestorben sind
noch heute so weiterleben
(als wäre das möglich)


Aufhebung

Sein Unglueck
ausatmen koennen

tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann

Und vielleicht auch sein Unglueck
sagen koennen
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhaengen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen koennte

Und weinen koennen

Das waere schon
fast wieder
Glueck


Nachtgedicht

Dich bedecken
nicht mit Küssen
nur einfach
mit Deiner Decke
(die Dir von der Schulter
geglitten ist)
daß Du
im Schlaf nicht frierst

Später
wenn Du
erwacht bist
das Fenster zumachen
und Dich umarmen
und Dich bedecken
mit Küssen
und Dich
entdecken


Nicht sich verstecken

Nicht sich verstecken
vor den Dingen
der Zeit
in die Liebe

Aber auch nicht
vor der Liebe
in die Dinge
der Zeit


Wenn ich dich küsse

Wenn ich dich küsse
ist es nicht nur dein Mund
nicht nur dein Nabel
nicht nur dein Schoß
den ich küsse
ich küsse auch deine Fragen
und deine Wünsche
ich küsse dein Nachdenken
deine Zweifel
und deinen Mut
deine Liebe zu mir
und deine Freiheit von mir
deinen Fuß
der hergekommen ist
und der wieder fortgeht
ich küsse dich
wie du bist
und wie du sein wirst
morgen und später
und wenn meine Zeit vorbei ist


Bei dir sein wollen

Wollen
bei dir sein wollen
mitten aus dem was man tut
weg sein wollen
bei dir verschwunden sein
nichts als bei dir
näher als Hand an Hand
enger als Mund an Mund
bei dir sein wollen
in dir zärtlich zu dir sein
dich küssen von aussen
und dich streicheln von innen
so und so und auch anders
und dich einatmen wollen
immer nur einatmen wollen
tiefer, tiefer
und ohne Ausatmen trinken
aber zwischendurch Abstand suchen
um dich sehen zu können
aus ein zwei Handbreit Entfernung
und dann dich weiter küssen


Erschwerung

Dich nur einmal sehen und dann nie wieder
muß leichter sein, als Dich noch einmal
und dann nie wieder sehen.
Dich noch einmal sehen und dann nie wieder
muß leichter sein, als Dich noch zweimal
und dann nie wieder sehen.
Dich noch zweimal sehen und dann nie wieder
muß leichter sein, als Dich noch dreimal
und dann nie wieder sehen.
Aber ich bin dumm und
will Dich noch viele Male sehen,
bevor ich Dich nie wieder sehen kann.