Thema: Stuttgart 21 10/2010Neuer Beitrag
Von: foofighter Le Petit Prince 04.07.2012 19:18 Uhr
12.10.2010

Stuttgart 21 und alle verstehen nur Bahnhof

Die Deutsche Bahn AG will in ihre Infrastruktur investieren. Ungefähr 99% aller Kommunen in Deutschland wären froh, wenn sie der Ort wären, wo diese Investitionen vorgenommen werden sollten. Nur im Süden der Republik, da ist alles anders. Zehntausende ziehen jede Woche durch die Stuttgarter Innenstadt und wollen verhindern, dass "ihr Bahnhof" umgebaut wird. Und neuerdings gibt es auch eine öffentliche Gegenbewegung, in der eine wachsende Gruppe eben genau diesen Umbau fordert und fördert. Was ist es also, dass die sonst so ordnungsliebenden und genügsamen Schwaben so auf die Straße treibt?

Um das ganze Ausmaß zu verstehen, muss man teilweise über 20 Jahre zurückblicken.
1988 - die Bahn hat seit kurzer Zeit ein neues Flagschiff, den ICE. Mit dem sollen die Entfernungen zwischen den großen Städten des Landes schneller überwunden werden. Dazu werden auch neue Strecken gebaut, von Würzburg nach Hannover und auch von Mannheim nach Stuttgart. Stuttgart gerät aufgrund seiner Lage in einem kleinen Nebental des Neckars besonders ins Blickfeld. Die Züge müssen in einer langen Kurve von Nordwesten kommend in den Talkessel geführt werden, um dann nach dem Kopf machen durchs enge Neckar- und Filstal die Schwäbische Alb zu erklimmen. Das will die Bahn ändern, es wird davon gesprochen, dem Bahnhof Cannstatt zum Fernbahnhof auszubauen, der eine direktere Linienführung ermöglichen würde. Damit würde aber die Stuttgarter Innenstadt vom Fernverkehr abgehängt.
Da kommt Professor Heimerl von der Universität Stuttgart auf die Idee, den bestehenden Bahnhof um 90° zu drehen, so dass er fast in direkter Linie zwischen Mannheim und Ulm liegt und ihn als Durchgangsbahnhof auszugestalten. Da Problem, dass dafür ganze Stadtviertel umgebaut und hunderte Häuser für neue Bahntrassen abgerissen werden müssten, umgeht er mit der Idee, das ganze unterirdisch anzulegen. 1995 stellt die damalige Bundesbahn entsprechende Pläne vor. Neben Bahnchef Dürr sitzen der Stuttgarter OB Manfred Rommel und Ministerpräsident Erwin Teufel. Die Planfeststellungsverfahren beginnen und viele Bürger nutzen ihr Recht zur Einsicht und auch zur Klage. Aber alle Instanzen geben über die Jahre der Bahn recht, sie darf bauen.
2010 ist es soweit. Im Februar wird ein erster Prellbock versetzt, um den Beginn der Umbaumaßnahmen im Gleisfeld zu dokumentieren. Im August kommen schließlich die Bagger und rücken dem Nordflügel des Bonatzbaus zu Leibe. Und jetzt wird die Situation dramatisch. Aus wenigen hundert, die die demokratischen Beschlüsse in Gemeinderat, Regionalversammlung, Landtag und Bundestag sowie die Entscheidungen diverser Gerichte nicht akzeptieren wollen, werden quasi über Nacht bis zu 60.000 Leute, die demonstrieren. Und die Argumente sind vielfältig:
* das Vorhaben sei nicht demokratisch legitimiert: das darf man wohl ins Reich der Fabel verweisen. Seit 1995 gab es zwei Oberbürgermeisterwahlen in Stuttgart (1996, 2004), drei Wahlen zur Regionalversammlung und zum Gemeinderat (1999, 2004, 2009), drei Landtagswahlen (1996, 2001, 2006) sowie vier Bundestagswahlen (1998, 2002, 2005, 2009). Außer den Grünen hat keine etablierte Partei im Wahlkampf gegen Stuttgart21 Position bezogen und sie fanden nie genug Zustimmung, dass sie ihre Position dan in den Parlamenten hätten durchsetzen können.
* die geologischen Gegebenheit in Stuttgart seien problematisch und die Mineralquellen würden zerstört: ja, Stuttgart steht auf einem Boden, der Anhydrit und Gipskeuperschichten enthält. Aber in Stuttgart gibt es diverse Tiefbauten wie den S-Bahntunnel vom Hauptbahnhof bis zur Universität oder die Tiefgarage in der Kronprinzenstraße, die durch diese geologische Schicht gehen und noch wesentlich tiefer hinabgehen als die geplanten Bauten im Zuge von S21 und keine einziges Haus ist in einem Krater verschwunden und auch die zweitgrößten Mineralquellen Europas sprudeln unvermindert weiter.
* das Projekt sei unverhältnismäßig teuer: ja, Stuttgart 21 kostet einen Haufen Geld. 1995 war laut Bundesbahn von knapp 5 Milliarden DM zu damaligen Preisen die Rede. Jetzt sind wir 15 Jahre später und die Bahn AG spricht von 4,5 Millarden Euro. Aus den 2,5 Milliarden Euro von 1995 wären über die Inflation mit durchschnittlich 2,5% auch schon 3,6 Millarden Euro geworden, bei 3% sogar 3,9 Millarden. Und erst vor wenigen Wochen hat unser Staat mal wieder 40 Milliarden in die HRE gesteckt. Das relativiert den zweifellos hohen Betrag dann doch schon ein wenig.
Die Grünen haben ein Gutachten des Münchner Ingenieurbüros Vieregg&Rössler vorgelegt, nachdem der neue Bahnhof und die Neubaustrecke nach Ulm wesentlich teurer würden und alleine die NBS mit ca. 10 Milliarden zu Buche schlagen würde. Also müsse man von S21 absehen und die Alternative Kopfbahnhof21 verfolgen. Dabei fallen aber zwei Punkte auf, die mich nachdenklich machen:
1. Die Neubaustrecke soll auch bei einer Verwirklichung von K21 gebaut werden, die Kosten dafür wären also dieselben
2. Es wurde tunlichst vermieden, die Kosten für K21 ebenfalls von diesem als hochpreisig schätzend bekannten Büro kalkulieren zu lassen, den selbst Zahlen aus 2006 sprechen bei K21 auch schon von über 3 Milliarden Euro. Das ist auch nicht verwunderlich, denn der Ausbau der Neckartalstrecke auf 6 Gleise inklusive der Umsiedlung von Bewohnern, deren Häuser abgerissen werden müssten, Brückenbauten quer durch das Werksgelande der Daimler AG und ebenfalls ein Tunnel durch die geologisch problematischen Gipsschichten auf die Fildern zum Landesflughafen sind im Vorfeld auch nur grob kalkulierbar.
Und es fehlen natürlich sämtliche Planfeststellungsverfahren und die damit verbundenen Kosten für diese Alternative, was zu einer weiteren Verzögerung von 10 bis 15 Jahren führen würde.

Am 30. September 2010 eskalierte die Situation. Die Bahn AG begann unter Polizeischutz mit den rechtlich völlig korrekten Vorbereitungen für das Fällen der ersten Bäume im Stuttgarter Schlossgarten. Die Parkschützer versammelten sich dort, um genau dies zu verhindern. Es kam zu Zusammenstößen, in deren Verlauf schließlich 130 Verletzte auf beiden Seiten zu verzeichnen waren. Es ist völlig unerheblich, wer mit der Gewalt begonnen haben soll. Jeder einzelne Verletzte - egal ob Polizist oder Demonstrant - ist einer zu viel. Beide Seiten täten gut daran, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. Dass Innenminister Rech behauptet, Eltern würden ihre Kinder in die erste Reihe schieben und so als Schutzschild missbrauchen, ist unverantwortlich. Ebenso unverantwortlich handeln S21-Gegner, die auf der Bühne das Gerücht verbreiten, es hätte durch den Polizeieinsatz Todesopfer gegeben.

Einen Kompromiss wird es in dieser Frage nicht geben, denn man kann keinen halben Bahnhof bauen. Es gibt nur ein ganz oder gar nicht, das macht die Situation - auch für den neu ernannten Schlichter Heiner Geißler - so schwierig. Die Positionen sind unvereinbar. In den letzten Jahrzehnten wurden viele Großprojekte gegen den angeblichen Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgeführt, die heute auf große Zustimmung stoßen. Gerade in Baden-Württemberg seien hier die NBS Stuttgart-Mannheim oder die Landesmesse erwähnt. Dieser Blick in die Vergangenheit sollte dazu ermutigen, das Vertrauen in die repräsentative Demokratie zu erhalten und die von den gewählten Volksvertretern getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.

Stuttgart 21 ist und bleibt ein problematisches Projekt, das große Fragezeichen aufwirft. So fragen sich auch Befürworter, warum die Gäubahnstrecke durch die Stadt zurückgebaut werden soll. Wenn im seit 30 Jahren bestehenden S-Bahntunnel Probleme auftreten, dient diese jetzt neben dem normalen Bahnverkehr Richtung Süden auch zur Aufrechterhaltung des S-Bahnverkehrs. Hier ließe sich also bei Erhalt das ÖPNV-Angebot verbessern, indem man eine neue S-Bahnlinie von Böblingen/Vaihingen über einen wiederbelebten Westbahnhof zum Nordbahnhof und weiter nach Ludwigsburg einrichtet und gleichzeitig bliebe die Bypassfunktion bei Tunnelsperrungen auf der Stammlinie erhalten. Aber am Ende bleibt für mich, dass S21 eine große Chance für Stuttgart ist, sich städtebaulich weiterzuentwickeln und gleichzeitig eine leistungsfähigen Bahnhof im europäischen Schnellbahnnetz zu bekommen. In dem Punkt gebe ich der ansich mangelhaften PR-Abteilung des Projektes recht: die guten Argumente überwiegen

Informationen über und gegen das Projekt findet ihr u.a. unter:
www.das-neue-herz-europas.de
www.stuttgart21-ja-bitte.de
www.kopfbahnhof-21.de
gruene-gegen-stuttgart21.de
www.stuttgarter-nachrichten.de/stuttgart21.html

Anakin
Für die LPP