Chat-Transkript vom 22.08.2005

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung

Thema: offen

Ulla_Schmidt: Guten Abend, Herr Specht, ich grüße und Sie und alle anderen Chatter!
Moderator: Wir beginnen traditionell jeden Chat mit einer Kurzvorstellung durch den Chatgast. Könnten Sie sich kurz vorstellen?
Ulla_Schmidt: Hallo, ich bin Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, 56 Jahre und Bundestagsabgeordnete aus Aachen.
Moderator: Seit wann sitzen Sie im Bundestag, bzw. was haben Sie in Aachen vorher getan?
Moderator: Das interessiert mich, da ich in Aachen wohne.
Ulla_Schmidt: Ich sitze seit 1990 im Bundestag und 1998 und 2002 wurde ich direkt gewählt. Vor meiner Zeit als Abgeordnete war ich als Lehrerin für Sonderpädagogik tätig. Schwerpunktmäßig im Bereich der Erziehung lernbehinderter und erziehungsschwieriger Kinder. Politisch war ich auf der kommunalen Ebene aktiv. Ich war Mitglied der Bezirksvertretung Aachen-Richterich und Mitglied des Rates der Stadt Aachen, verantwortlich für Wohnungs- und Liegenschaftspolitik.
Moderator: Danke, kommen wir zu den Fragen aus der community.
Moderator: Frage von BaronT an Ulla Schmidt:    "Wieso wird die Krankenversicherung nicht mehr gleichmäßig von AG und AN finanziert (z.B. Zuzahlungen, Praxisgebühr)?"
Ulla_Schmidt: Schon seit 1989 gibt es Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme von Leistungen, damals von Bundessozialminister Norbert Blüm eingeführt. Bei der jetzigen Gesundheitsrefom ging es vor allem auch darum, den Faktor Arbeit bei der Finanzierung der Gesundheitskosten zu entlasten. Neben den Ausgabenproblemen haben wir derzeit vor allen Dingen auch Einnahmeprobleme. Arbeit muss in Deutschland wieder attraktiver werden und dazu gehört nach Auffassung aller auch die Lohnnebenkosten zu begrenzen. Wir wollen, dass wieder mehr Menschen in Arbeit kommen. Der Menschen willen und damit auch die Einnahmeseite in Ordnung kommt.
Moderator: Frage von Raider an Ulla Schmidt:    " Wie sieht Ihre Position gegenüber den Versicherungen aus, die immer noch nicht die Beiträge gesenkt haben? "
Ulla_Schmidt: Fakt ist, dass in den anderthalb Jahren ein Großteil der Kassen mehr Schulden abgebaut haben als sie laut Gesetz mussten. Wir hatten festgelegt, dass die Schulden in einem Zeitraum von 4 Jahren abgebaut werden sollten, d.h. 25 % der Überschüsse pro Jahr. Der Rest sollte in Beitragssatzsenkungen den Versicherten zugute kommen. Die Kassen haben dies unterschiedlich gehandhabt. Fakt ist aber auch, dass ohne Gesundheitsreform der durchschnittliche Beitragssatz Anfang 2004 auf 15 Prozent gestiegen wäre, jetzt haben wir einen allgemeinen Beitragssatz von durchschnittlich 13,26 Prozent und 2/3 aller Krankenkassen sind mittlerweile entschuldet. Auch das kommt den Versicherten langfristig zugute. Ich kann nur jedem empfehlen, notfalls die Kasse zu wechseln und zu sehen, wie sie die Beiträge verwenden. Seit der Gesundheitsreform ist eine Offenlegung Pflicht.
Moderator: Frage von rDa an Ulla Schmidt:    "Hat sich die gesundheitliche Versorgung von finanziell Schwächeren in den letzten Jahren durch die Reformen verschlechtert? Können sich manche die Medikamente, Arztbesuche oder nötigen Zahnbehandlungen nicht mehr leisten?"
Ulla_Schmidt: Wir haben darüber keine Daten. Durch die Festlegung der Belastungsgrenzen auf 2 % des Einkommens, bei chronisch Kranken auf 1 %, ist die Belastung so verteilt, dass schwache Schultern wenig zahlen und stärker Schultern mehr. Im Übrigen haben die Krankenkassen schon in diesem Jahr vielen Versicherten mit geringem Einkommen Befreiungen angeboten und dafür monatliche Zahlungen von 3,50 oder 5 Euro vereinbart.
Moderator: Frage von Hansi an Ulla Schmidt:    "Weshalb gibt es für die Kassenpatienten keine Direktabrechnung, d.h. warum läßt man nicht jeden Patienten sehen was der jeweilige Arzt abrechnet?"
Ulla_Schmidt: Seit der Gesundheitsreform hat jeder Versicherte einen Rechtsanspruch darauf, nach der Behandlung eine Patientenquittung ausgehändigt zu bekommen. Nutzen Sie diese Möglichkeiten.
Moderator: Frage von Hansi an Ulla Schmidt:    "Gibts inzwischen einen andere, mit weniger Bürokratie belastete Alternative aus Ihrem Ministerium zu den Quartals-10-Euro?"
Ulla_Schmidt: Soviel Bürokratie ist das gar nicht.Früher mussten die Krankenscheine abgeheftet und Überweisungen geschrieben werden, heute wird die Zahlung der Praxisgebühr notiert, die Arztpraxen haben sich mittlerweile darauf eingestellt.
Moderator: Frage von BaronT an Ulla Schmidt:    "Sollte man nicht mehr gegen Pharmakonzerne unternehmen, die notwendige Medikamente viel zu teuer verkaufen?"
Ulla_Schmidt: Die Pharmaindustrie würde jetzt antworten, dass wir viel zu sehr in ihre Belange eingreifen. Grundsätzlich gilt: Wir wollen, dass in Deutschland geforscht wird und dass auch Medikamente entwickelt werden und wir sind auch bereit, für Medikamente den Patienten wirklich mehr Nutzen oder auch ihre Lebensqualität deutlich zu erhöhen, auch Geld zu bezahlen. Was wir nicht wollen, ist, für gleich wirkende Arzneimittel, die auch kostengünstiger auf dem Markt sind, zB. 300 % Preisaufschlag zu bezahlen. Wir haben mit der Gesundheitsreform Instrumente auf den Weg gebracht, z.B. Festbeträge auch für patentgeschützte Arzneimittel oder Nutzenbewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, oder auch Rabattverhandlungen mit den Unternehmen durch die einzelnen Kassen, oder auch verbesserte Instrumente zur zeitnahmen Beratung von Ärzten. Wir müssen jetzt sehen, dass diese Instrumente wirken. Wir wollen aber auch die guten 120.000 Arbeitsplätze in Deutschland erhalten.
Moderator: Müsste bei diesem Thema nicht die Gesundheit der Menschen vor den Belangen der Industrie stehen, die ja teilweise exorbitante Gewinne erwirtschaftet und der es sicher nicht schaden würde, dort ein paar Zugeständnisse zu machen?
Ulla_Schmidt: Beim Thema Gesundheit geht es für mich immer darum, die bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle, unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft, Alter usw. sicherzustellen und zwar auf der Höhe des medizinischen Fortschritts. Dazu gehört auch, das Gesundheitssystem bezahlbar zu halten. Deshalb igeht die Auseinandersetzung im Gesundheitswesen immer darum, die begrenzten Ressourcen so effektiv und effizient wie möglich einzusetzen, und wir machen vor den Belangen der Industrie keinen Halt. Aber eine gute Gesundheitsversorgung wird es auch nur geben, wenn wir ausreichend Wachstums- und Wohlstandsentwicklung in Deutschland haben.
Moderator: Ich denke in diesem Zusammenhang auch an den Streit der brasilianischen Regierung mit dem US-Pharmakonzern Abbott.
Moderator: zu spät... :)
Moderator: Frage von maiksail an Ulla Schmidt:    "Privat geht immer besser als durch den Staat - Würden Sie dieser These zustimmen?"
Moderator: Frage von rDa an Ulla Schmidt:    "Sind Sie privat oder gesetzlich versichert und weshalb haben Sie sich dafür entschieden?"
Ulla_Schmidt: Heißt das, dass ich jetzt nicht antworten darf? Ansonsten haben wir uns immer bei allen internationalen Verhandlungen dafür eingesetzt, dass auch die Menschen in ärmeren Ländern zu bezahlbaren Preisen die Medikamente erhalten, die sie benötigen, um Krankheiten einzudämmen oder zu heilen.
Moderator: Nein, das heisst es natürlich nicht.
Moderator: Wie groß ist der deutsche und speziell Ihr Einfluss als Ministerin bei solchen Verhandlungen?
Ulla_Schmidt: Zur Frage von maiksail: Nein, es gibt Risiken, wo auch Sie vielleicht froh sein könnten, dass der Staat Ihnen einen ausreichenden Schutz zuspricht. Allein und privat geht manchmal nur, solange alles gut geht. Nun zu rDa: Ich bin seit der Aufnahme meiner Berufstätigkeit Beamtin, Sonderschullehrerin, wie ich am Anfang erwähnt habe, von daher wie alle Beamten privat versichert mit Beihilfeanspruch.
Ulla_Schmidt: Nochmal zum Moderator: Die deutschen Minister, in der Regel bei diesen Verhandlungen Entwicklungshilfe, Auswärtiges und Wirtschaft, können dort ihren Einfluss geltend machen, haben dies getan.
Moderator: Anders gefragt: Wie weit reicht der Einfluss bei solchen Verhandlungen mit international agierenden Konzernen?
Ulla_Schmidt: Das sind keine einfachen Verhandlungen, weil es auch gegensätzliche Interessen der Länder gibt. Wir sind ein Land von vielen.
Moderator: Frage von maiksail an Ulla Schmidt:    "....Privat würde ich echte Rechte auf Hilfe erwerben. So gibt es nur einen Anspruch der von der Gesundheit meiner Mitmenschen und der wirtschaftlichen Lage der Umlagezahler abhängt."
Moderator: Frage von maiksail an Ulla Schmidt:    "Sollten Ärzte nur den Wirkstoff und der Apotheker das einzelne Medikament festlegen?"
Ulla_Schmidt: Nein. Wenn Sie Ihren Vertrag aus persönlichen Gründen vielleicht einmal ändern müssen, kann es passieren, dass Sie den gesamten Schutz verlieren. Die gesetzliche Versicherung basiert auf dem Prinzip, dass viele viel mehr einzahlen als sie Gott sei Dank jemals brauchen im Leben, damit alle, die Leistungen erhalten, oft mehr als sie jemals in ihrem Leben an Beiträgen einzahlen können, diese auch erhalten können. Dass Sie heute über eine so gute Infrastruktur in der medizinischen Versorgung verfügen können, hat nur mit den Sicherstellungsaufträgen der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun. Keine einzige private Versicherung ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Sie auch in entlegeneren Gegenden Deutschlands eine medizinische Versorgung erhalten. Jeder gesetzlich Versicherte hat Anspruch auf die medizinisch notwendige Versorgung auf der Höhe des anerkannten medizinischen Fortschritts. Das bietet Ihnen keine private Krankenversicherung auf Dauer. Jetzt noch zur zweiten Frage:Heute müssen die Ärzte ankreuzen, wenn die Apotheken das Medikament nicht durch ein anderes kostengünstigeres ersetzen dürfen.
Moderator: Frage von maiksail an Ulla Schmidt:    "Kann die soziale Sicherung angesicht der verkehrten Alterspyramide in der derzeitigen Form überhaupt funktionieren?"
Ulla_Schmidt: Unsere Reformen der Agenda 2010 basieren auf der Erkenntnis, dass unsere Kinder und Enkelkinder nur dann auch den notwendigen sozialen Schutz haben, wie er für meine Generation selbstverständlich geworden ist, wenn wir heute die sozialen Sicherungssysteme den veränderten Bedingungen anpassen. Dazu gehört festzulegen, was solidarisch abgesichert werden muss und was in die Verantwortung des einzelnen gelegt werden kann.
Moderator: Frage von rDa an Ulla Schmidt:    "Wie stehen sie zum Bereich der Genforschung?"
Ulla_Schmidt: Im Bereich der Forschung unterstütze ich das, was den Menschen nutzt und ethisch vertretbar ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Sie mit Ihrer Frage nicht auch den Schutz des einzelnen vor der Verwendung seiner genetischen Daten meinen?
Moderator: Frage von BaronT an Ulla Schmidt:    "Glauben Sie, dass Rot-Grün noch Chancen hat, bei der kommenden Bundestagswahl zu gewinnen?"
Moderator: ...und damit auch die Chance, die Agenda 2010 zu Ende zu führen.
Ulla_Schmidt: Ich will, dass Gerhard Schröder Bundeskanzler bleibt. Das Spiel dauert 90 Minuten. Im konkreten Fall 18. 9., 18.00 Uhr Abpfiff. Und manches Spiel ist schon in den letzten zwei Minuten entschieden worden.
Moderator: Frage von Canary an Ulla Schmidt:    "Was planen Sie für Ihre Zukunft nach der BTW, sollten Sie nicht mehr an der Regierung beteiligt sein?"
Moderator: Frage von Raider an Ulla Schmidt:    "Wie sehen Sie ihre Rolle in der künftigen Regierung, im Falle einer a) großen Koalition, b) einer Koalition der SPD mit den Grünen (und ev. der Linkspartei)?"
Ulla_Schmidt: Wie kommen Sie darauf? Erstens kämpfe ich für die Mehrheit und damit auch für eine Regierung Gerhard Schröder. Zweitens haben wir oft genug gesagt, dass es mit der PDS, ergänzt um Oskar Lafontaine, keine Basis für eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit gibt. Ein Bündnis, das nur sagt, was es nicht will, und keine Antwort darauf hat, was getan werden muss, das plant, Stuern um 80 Mrd zu erhöhen und damit 150 Mrd. auszugeben, ist kein Koalitionspartner.
Ulla_Schmidt: Antwort an Raider: Ich habe immer gesagt, ich bleibe so lange, wie der Kanzler mich braucht, und ich hoffe, dass es für Rot-Grün reicht. Die Reformen beginnen langsam zu wirken. Wenn Sie sich einmal ansehen, wie die Wirtschaftskraft Deutschlands international bewertet wird, der nächste Schritt ist, dass sich das in Investionen und Arbeitsplätzen im Inland auswirkt. Dies würden wir gerne selbst mitgestalten, denn es zeigt sich, dass zur Erholung der Wirtschaft auch der Erhalt der sozialen Balance notwendig ist.
Moderator: Frage von BaronT an Ulla Schmidt:    "Warum wollen Sie sich als Gesundheitsministerin mit dem möglichen Finanzminister Kirchhof duellieren?"
Ulla_Schmidt: Weil ich weder Kopfpauschalen noch Kopfsteuern will und damit die Umverteilung von unten nach oben.
Moderator: Kommen wir zur letzten Frage des Cahts.
Moderator: Frage von maiksail an Ulla Schmidt:    "Würden Sie es begrüssen, wenn Patienten alle Unterlagen (Röntgenbilder etc.) immer auch mit nach Hause nehmen dürfen, um Verlust in den Krankenhausdatenbanken zu vermeiden und mehr Eigenverantwortung zu erhalten?"
Ulla_Schmidt: Ich glaube aber, das BaronT mich mit Renat Schmidt verwechselt, die über Familienpolitik mit Herrn Kirchhof streiten wollte und dem konservativen Modell der Hausfrauenehe vion Herrn Kirchhof das der gleichberechtigten Partner entgegensetzen will.
Ulla_Schmidt: Jetzt zur letzten Frage: Ja. Deshalb dränge ich massiv darauf, dass die elektronische Gesundheitskarte eingeführt wird, die zur elektronischen Patientenakte weiter entwickelt werden soll.
Ulla_Schmidt: Ich bedanke mich und hoffe, ihr habt alle noch einen schönen Abend vor euch. Ich noch einen arbeitsamen. Tschüss!
Moderator: Ich bedanke mich für Ihre Teilnahme am dol2day-Chat und für Ihre offene Beantwortung der Fragen.
Moderator: Auf wiedersehen!
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