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Fragenübersicht Der Philosoph und Gesellschaftskritiker Robert Kurz - u.a. Autor des Bestsellers "Schwarzbuch Kapitalismus" - ist gestern verstorben. Möchtest du dich dazu äußern?
1 - 20 / 218 Meinungen+20Ende
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19.07.2012 23:38 Uhr
robert kurz hat mich vor ein paar jahren in meinen politischen grundvorstellung so maßgeblich geprägt, wie davor wohl nur rudolf rocker und noch viele jahre davor george orwell.

zugegebenermaßen hat mich nicht nur die unorthodoxe marxrezeption sehr fasziniert, sondern auch seine fähigkeiten als kritiker und polemiker. ich würde wohl noch heute jedem laien oder bislang unpolitisierten, der sich für marxistische gesellschaftskritik interessiert, das "schwarzbuch kapitalismus" als einstiegslektüre empfehlen.

mit etwas distanz sehe ich aber nicht nur die person, sondern auch das werk aus gewisser perspektive kritisch. die zusammenbruchstheorie steht auf sehr wackeligen beinen und öffnet einer geschichtsteleologie die tore. die kurzsche rationalitäts- und vernunftkritik nimmt außerdem teilweise gegenaufklärerische ausmaße an, die ich aus heutiger perspektive nicht mehr teilen kann.

aber auf den punkt gebracht war es gerade seine abkehr von jenen essentials des orthodoxen marxismus, also eine abkehr von arbeits- und proletariatsfetischismus, seine kritik an antisemitismus und antizionismus und seine fokussierung auf jene abstrakten momente moderner vergesellschaftung, die mir die tür zu marx und somit zum westlichen marxismus und kritischer theorie geöffnet hat.

bedauere seinen tod sehr.

Diese Meinung wurde zuletzt geändert am 20.07.2012 01:48 Uhr. Frühere Versionen ansehen
20.07.2012 04:25 Uhr
Ich kenne ihn nur vom Hörensagen - wie alt wurde er denn?
20.07.2012 05:18 Uhr
Ich konnte mit Robert Kurz nie viel anfangen, aber nun ist er tot und das ist natürlich sehr schade für seine Freunde und Angehörigen. Sie haben mein Mitgefühl.
20.07.2012 06:28 Uhr
Kenne ihn nicht, und ich denke, ich hätte seinen Schriften nicht viel abgewinnen können. Nun ist er tot, das ist für seine Familie natürlich ein bitterer Verlust, ebenso wahrscheinlich für die Leser seiner Herausgaben.
20.07.2012 06:50 Uhr
Robert Kurz und die von ihm massgeblich mitinitiierte wertkritische Marx-Lektüre hatten in der Phase meines radikalen politischen Umdenkens 2003 einen damals erheblichen Einfluss auf meine sich entwickelnde neue Sicht auf die Welt und mein Denken und fungierten in kaum zu überschätzender Weise als Türöffner in die Gedankenwelt einer undogmatischen und nicht arbeitsfetischistischen Marx-Lektüre sowie weitergehend natürlich auch als Zugang zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.

Auch wenn ich heute mit ein paar Jahren Abstand das ein oder andere kurzsche Theorem doch eher kritisch sehe, wie z.B. seine antimodernistische Vernunftkritik, seine teleologisch anmutende Zusammenbruchstheorie oder seine Polemiken gegen die radikale Kritik der deutschen Ideologie, so ist und bleibt er für mich trotz allem einer der brilliantesten Denker und Analytiker unserer Zeit und sein Tod bestürzt mich sehr.
20.07.2012 06:56 Uhr
@angelus

D'accord zu allem was du geschrieben hast. Im Prinzip decken sich deine Erfahrungen mit den kurzschen Werken ja in erstaunlicher Weise mit den meinen, auch wenn unser beider Lebensweg vor dem jeweils über dol2day vermittelten Zugang zur wertkritischen Marx-Lektüre kaum unterschiedlicher wohl hätte sein können. ;-)
20.07.2012 10:38 Uhr
Ein Kommunist weniger.
20.07.2012 10:49 Uhr
Zitat:
Ein Kommunist weniger.


@ Karlmann

Ein schwacher Kommentar. Kann man da nicht ein bisschen pietätvoller rangehen - oder hat er Dir persönlich was angetan?
20.07.2012 13:09 Uhr
"auch wenn unser beider Lebensweg vor dem jeweils über dol2day vermittelten Zugang zur wertkritischen Marx-Lektüre kaum unterschiedlicher wohl hätte sein können. ;-)"

wobei ich auch auf die altersdifferenz verweisen möchte. ich hab ehrlich gesagt keine genau ahnung, wie alt ich bei dol erstanmeldung war, vielleicht 15, vielleicht 16?

aber bezüglich des lebenswegs hast du wohl durchaus recht. schon die politische primärsozialisation über meine eltern wird wohl deutlich anders verlaufen sein.
20.07.2012 13:54 Uhr
"oder hat er Dir persönlich was angetan?"

Nö, deswegen ist es mich auch so hoch wie breit.
Andere mögen Trauer heucheln mir geht der am Arsch vorbei.
20.07.2012 14:04 Uhr
weiterer artikel über den pösen pösen roten:

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/publizist-und-philosoph-robert-kurz-ist-tot-a-845455.html
20.07.2012 15:01 Uhr
Schade. Ein interessanter Denker weniger.

Das Schwarzbuch fand ich, als ich es vor einigen Jahren gelesen habe, erst einmal verstörend. Da äußerte sich jemand aus einer linken Perspektive zu vielen Fragen ganz anders, als ich das sonst so gewohnt war. Insoweit war Kurz-Lektüre tatsächlich meine erste Begegnung mit "unorthodoxem Marxismus". Und interessanterweise haben auf längere Sicht einige Gedanken von Kurz doch mein Denken beeinflusst, insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Arbeitsbegriff.
20.07.2012 15:15 Uhr
@ karlmann

Du Tütenkasper, haha.

Diese Meinung wurde zuletzt geändert am 20.07.2012 17:16 Uhr. Frühere Versionen ansehen
20.07.2012 15:18 Uhr
@ angelus_novus

Zitat:
die kurzsche rationalitäts- und vernunftkritik nimmt außerdem teilweise gegenaufklärerische ausmaße an, die ich aus heutiger perspektive nicht mehr teilen kann.

Hast du die Texte zur "emanzipatorischen Antimoderne" mal gelesen? Da wird ja gerade der Dualismus Aufklärung/Gegenaufklärung überwunden.
20.07.2012 15:57 Uhr
@ outofvogue:
ne hab ich ehrlich gesagt nicht.
ist der irgendwie online lesbar?
21.07.2012 00:38 Uhr
@outofvogue

Meinst du sein Buch "Blutige Vernunft"? Und wenn ja, auf welchen Essay darin speziell beziehst du dich? Dann lese ich es nämlich auch nochmal nach. ;-)

Allgemein läßt sich aber m.E. festhalten, dass zwar die kurzsche Analyse des Dualismus Aufklärung/Gegenaufklärung prinzipiell nicht verkehrt ist, er sie aber eben auch nicht zu überwinden vermag bzw. die Überwindung ihm nur abstrakt mithilfe einer unvermittelten totalen Negation gelingt, die aber blind für die qualitativen Unterschiede zwischen beidem ist.
21.07.2012 11:16 Uhr
Und was sind diese qualitativen Unterschiede?
21.07.2012 11:24 Uhr
@outofvogue

Auch wenn du das vielleicht nicht gerne hören magst, aber ich lebe im Zweifel lieber in einer bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft mit den darin enthaltenen Rechtssicherheiten vor direkter Willkür und unvermittelten Zwängen als in einer traditionalistisch-gegenaufklärerischen Gemeinschaft (gleich ob faschistisch, theokratisch oder wie auch immer fundiert).
Und ich denke, der in Gaza-Stadt lebende Homosexuelle oder die zur Steinigung verurteilte Ehebrecherin in Teheran sähen das durchaus ähnlich. ;-)
21.07.2012 11:37 Uhr
Also mal kurz:

1. Mit Kurz lässt sich die "Gegenaufklärung" als Übergangsmoment der Aufklärung selbst bestimmen: also das ganze Inventar des Irrationalismus ist nicht zu trennen von der kapitalistischen Moderne und unterscheidet sich von allem, was es vorher an nicht aufgeklärten Gesellschaften gab. Ein Beispiel: Die Verbindung einer ideologischen Bauernromantik im NS mit modernster Kriegsführung und Wunderwaffen.
Der moderne Irrationalismus ist der Funktion nach fundiert in der Ratio des Tauschs - verlängert diesen mithin.

2. Das Verständnis von vormodernen Gemeinwesen als "direkte Willkürherrschaft" ist überzogen und übernimmt unkritisch die Absolutismuskritik des Bürgertums (nicht alle vormodernen Gemeinwesen, und schon garnicht der Feudalismus waren immer absolutistisch!). Hier wären gerade die befreienden Momente der Vormoderne mal auszuarbeiten (qualitatives Zeitverhältnis versus kapitalistischer Arbeitszwang).

3. Wieder die schlechte Logik des Vergleichs. Schwulenverfolgung usf. gibt es hier auch - fahr mal in ländliche Regionen. Im übrigen ist die bürgerliche Gesellschaft weltweit so gut wie durchgesetzt - auch die Hamas operiert nicht im "Mittelalter". Es gibt auch Literatur dazu, wie die Islamisten als moderne Bewegung die Homophobie aus dem Westen importiert!
21.07.2012 11:51 Uhr
@outofvogue

Auf der theoretisch-abstrakten Ebene ist das alles nicht verkehrt, was du da schreibst.

Aber im konkreten Leben des einzelnen Menschen macht es trotzdessen einen erheblichen qualitativen Unterschied aus, ob man als Homosexueller in Gaza-Stadt seine Neigung im Untergrund ausleben muss, weil einem sonst vielleicht die Scharia-basierte Lynchjustiz religiöser Fanatiker droht oder ob ich in Deutschland zwar mit gewissen homophoben Diskriminierungen zu kämpfen habe, jedoch die sexuellen Präferenzen meine Rechtssicherheit nicht tangieren oder gar aufheben.

Und selbst solche Diskussionen wie wir sie hier bei dol2day gerade führen, könnten wir so nicht in allen Regionen der Erde führen ohne erhebliche willkürliche Restriktionen zu befürchten.

Und sich solchen qualitativen Differenzen gegenüber blind zu machen, streicht m.E. das primäre Movens emanzipatorischer Politik durch, nämlich den konkreten existenten Menschen.
  GRUENE   IDL   SII, KSP   FPi
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